Armut ist die Schwäche des Systems. Armut bedeutet die Ausgrenzung von Individuen. Das System definiert, welcher Mensch wie viel Wert hat. Die Schweiz verursacht bewusst und systemisch Armut. Die Armut wird primär am Einkommen gemessen. Vergessen geht oftmals, dass Armut in vielen Fällen ungleiche Chancen verursacht wird. Armut wird seit Jahrhunderten immer vielseitiger bekämpft, aber es gibt sie immer noch. Was ist eigentlich das Ziel dieser Bekämpfung, eine Chancengleichheit für alle Menschen? Und warum haben wir diese in den letzten vielen Jahren nicht erreicht?
Was für ein System hätten wir, wäre die Armut besiegt, gäbe es sie nicht mehr? Keine Armut mehr bedeutete eine ganzheitliche, menschenwürdige (Arbeits-)Welt ohne Gesellschaftsklassen. Dazu nötig wäre, dass die Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich massiv reduziert wird. Armut ist für unser System auch profitabel. Es kann Menschen ohne Arbeit zur solcher verpflichten, die sonst niemand machen will. Die Wirtschaft geizt mit Löhnen, die einen durchschnittlichen Lebensstandard ermöglichen.
Und ganz wichtig: Dank der Armut haben alle Menschen wiederum Menschen, auf die sie hinunterschauen oder die sie sogar beschimpfen können. Die Menschen schützen die, die mehr haben und erniedrigen jene, die weniger haben. Die Existenz von Armut ist also auch gut für das Ego von jenen, die nicht betroffen sind. Die Armut kostet uns Milliarden an Investitionen, auf denen jene Menschen, die nicht in Armut leben, gerne herumtrampeln.
Die Milliarden könnten auch für Arbeitsplätze eingesetzt werden: Statt zum Beispiel „niederschwellige“ Arbeitsplätze an Arbeitsprogramme abzutreten, sollten die Betriebe Menschen einstellen und Löhne bezahlen. Als Sozialarbeiterin behaupte ich, dass kein Mensch antriebslos ist, jeder will seinen Beitrag an die Gesellschaft, an die Welt leisten. Es gibt jedoch Menschen, die kurz oder längerfristig in einer Krise stecken und ihren Antrieb verlieren, dies nicht zuletzt, weil der Kummer, die Not und die Angst in der Armut respektive vor der Armut so unfassbar erdrückend und erniedrigend sind. Die Bekämpfung von Armut kann erst dann erfolgreich sein, wenn die Gründe für die Entstehung von Armut erkannt werden.
Solange das System aus Politik und Wirtschaft über die Armut entscheidet, statt die von Armut betroffenen Menschen mit echter Partizipation in Diskussion, Entscheidungen und Prävention der Armutsbekämpfung miteinzubeziehen, solange wird es auch Armut geben. Ohne Armut wären die Menschen das, was sie sind – einfach Mensch.